Kopfgeld für beatmete schwerstbetroffene Hirnverletzte?

Die Mitgliedsverbände des Think Tanks zum Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) haben sich in einem offenen Brief an den Bundesminister für Gesundheit, Prof. Karl Lauterbach, zu Wort gemeldet. In dem Schreiben kritisieren sie die neuen Fehlanreize in der außerklinischen Intensivpflege, die den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben erschweren. Ein eigentlich löblicher Ansatz, das Weaning (Entwöhnung von der Beatmungsmaschine) in Kompetenzzentren zu überprüfen und bei positiver Prognose auch durchführen zu lassen, wie durch die AOK PLUS verkündet (wir berichteten) wird durch Praktiken, wie unten im offenen Brief an Gesundheitsminister Karl Lauterbach beschrieben, nicht nur infrage gestellt, sondern ist wenigstens moralisch verwerflich und lässt das Vertrauen in unser Gesundheitssystem schwinden.

Der SHV-FORUM GEHIRN e.V., als einer der Mitgliedsverbände veröffentlicht hier den Inhalt des Offenen Briefes des GKV-IPReG Think Tanks wie folgt:

Offener Brief an den Bundesminister für Gesundheit, Herrn Prof. Karl Lauterbach

Sehr geehrter Herr Bundesminister Professor Lauterbach,

wir haben Grund zu der Annahme, dass die hier aufgezählten Ziele und Beweggründe des von der Vorgängerregierung auf den Weg gebrachten und am 29.10.20 in Kraft getretene Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) durch die unten genannten beunruhigenden Entwicklungen zu Lasten der betroffenen Versicherten und der Versichertengemeinschaft ins Gegenteil verkehrt werden.

  • Rechtssicherheit für die von außerklinischer Intensivpflege (AKI) betroffenen Versicherten zur Gewährleistung einer AKI zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Rahmen des SGB V
  • Beseitigung von Fehlanreizen durch nicht hinterfragtes Festhalten an künstlicher Beatmung und Trachealkanüle
  • Beseitigung von Abrechnungsbetrug bei der Erbringung von Leistungen in der AKI u.a. durch Einsatz von nicht qualifiziertem Personal.
  • Klare und transparente untergesetzliche Regelungen für die Umsetzung des GKV-IPReG mit
    • Sicherung eines Qualitätsstandards in der ärztlichen Betreuung von Versicherten mit Anspruch auf AKI über die
      • AKI-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 21.11.2021 nach § 92 (1) SGB V zur Verordnung von außerklinischer Intensivpflege einschließlich regelmäßiger Erhebung von Potenzial für die Entwöhnung von maschineller Beatmung und Trachealkanüle durch besonders qualifizierte Fachärztinnen und Fachärzte
      • Änderung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) des Bewertungsausschusses vom 16.11.2022 nach § 87 Abs. 1 SGB V
      • Begutachtungsanleitung Außerklinische Intensivpflege nach § 37c SGB V vom Medizinischen Dienst Bund (Inkrafttreten für August 2023 erwartet)
    • Sicherung eines Qualifikationsstandards in der pflegerischen Betreuung von Versicherten mit Anspruch auf AKI über
      • Rahmenempfehlungen nach § 132l (1) SGB V vom 3.4.2023 durch den GKV-Spitzenverband und Verbände der Leistungserbringer.

Aufs Höchste besorgniserregend empfinden wir, dass mit kürzlich bekannt gewordenen Verträgen zwischen Kliniken und gesetzlichen Krankenversicherungen entgegen der Intention des GKV-IPReG neue Wertschöpfungsketten und finanzielle Fehlanreize geschaffen werden und damit die ursprüngliche Intention des GKV-IPReG ins Gegenteil verkehrt wird.

  • Leistungserbringern werden seitens beteiligter Kliniken (Schreiben liegt vor)
  • Kopfgelder für die Zuweisung zur stationären Behandlung und
  • extra Prämien im Falle erfolgreicher Entwöhnung versprochen.

Hiermit wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, indem Versicherte ohne Potenzial auf Entwöhnung wegen der genannten finanziellen Anreize trotzdem in Kliniken zu einem Entwöhnungsversuch eingewiesen werden, was zusätzliche und unnötige Kosten zu Lasten der GKV auf der einen und weiteres Leid für die Versicherten auf der anderen Seite verursacht. Dies wird mit Sicherheit die Justiz beschäftigen und Schmerzensgeldklagen nach sich ziehen.

Ein derart inhumanes und rechtswidriges Handeln kann sicher nicht im Sinne des Gesetzgebers sein und erfordert ein hartes Durchgreifen der Exekutive.

Haben die betroffenen Versicherten nicht schon genügend Leid erfahren? Es muss ihrer Degradierung zum Spielball finanzieller Fehlanreize ein Riegel vorgeschoben werden. Zudem müssen die politisch Verantwortlichen ein Interesse daran haben, bei diesen Machenschaften in der Öffentlichkeit nicht als Komplize dazustehen.

Mit kollegialen Grüßen für die oben genannten Verbände

gez. P. Diesener


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